Warum neigen manche Personen eher als andere dazu, eine Straftat zu begehen? Die Antworten auf diese für die Kriminologie zentrale Frage lassen sich zwei großen Denkansätzen zuordnen. Persönlichkeitsorientierte Sichtweisen sehen die Ursache für kriminelles Verhalten in stabilen Faktoren im Individuum, beispielsweise mangelnder Selbstkontrolle. Soziogene Ansätze hingegen legen in ihren Studien das Augenmerk auf Faktoren außerhalb des Individuums und verweisen beispielsweise auf schwierige Wohngegenden, Arbeitslosigkeit der Eltern und nicht normenkonforme Peers als Hauptursachen für Kriminalität. Obwohl beide Sichtweisen breite Unterstützung erfahren, ist ein konstruktiver Austausch zwischen ihnen bislang kaum zustande gekommen. Allerdings wird gerade die Forschung an dieser Schnittstelle für unser Verständnis von kriminellem Verhalten vermutlich besonders fruchtbar sein.
Das ERC-finanzierte Projekt CRIMETIME (ERC Consolidator Grant 772911) soll diese Lücke schließen. Dazu skizzieren und testen wir eine neue Sichtweise auf kriminelles Verhalten, die den individuellen und den soziogenen Ansatz integriert und dabei das Hauptaugenmerk auf ein gängiges Korrelat von Kriminalität richtet: die Tendenz, sich auf unmittelbare Vorteile zu konzentrieren und dabei langfristige Nachteile zu vernachlässigen (d. h. kurzfristiges Denken). Diese Perspektive basiert auf der Annahme, dass dieses Denken Kriminalität begünstigt, und sie führt detailliert aus, wie sowohl individuelle Dispositionen und soziogene Variablen dieses Denken fördern. Dies bedeutet, dass das kurzfristige Denken nicht, wie in der Kriminologie allgemein angenommen wird, stabil, sondern formbar ist und sich im Laufe der Zeit in Abhängigkeit von Umfeldfaktoren wie Viktimisierung, Erziehungsstilen, Sanktionen und straffälligen Gleichaltrigen verändert – alles Faktoren, die einzeln maßgeblich mit Kriminalität in Verbindung gebracht werden.
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